Die Freiheit der Person: Ein Menschenrecht für alle

Hintergrundinformationen von Rechtsanwältin Milazzo zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24.07.2018 Az.: 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16 zur Fixierung von Menschen in der Psychiatrie

„Fehlende Einsichtsfähigkeit lässt den Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht entfallen.“ Das schreibt das BVerfG in seiner Begründung dafür, dass Menschen nicht länger als eine halbe Stunde ohne richterlichen Beschluss in der Psychiatrie mit Gurten so festgebunden werden dürfen, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Doch was bedeutet das eigentlich?

Die Richterinnen und Richter meinen damit, dass das Recht auf Freiheit auch dann noch gilt, wenn ein Mensch nicht verantwortlich für das ist, was er tut. Das gilt wenn jemand noch nicht volljährig, psychisch krank oder geistig behindert, betäubt, berauscht oder nicht bei vollem Bewusstsein ist.

Wann darf die Freheit entzogen werden?

Es ist erlaubt, die Freiheit zu beschränken, aber dafür braucht es sehr gute Gründe. Es muss in einem Gesetz stehen (Gesetzesvorbehalt) und die Freiheit darf nur mit richterlichem Beschluss entzogen werden (Richtervorbehalt). Das steckt in Artikel 104 des Grundgesetzes (GG).

Wo ist das Recht auf Freiheit der Person geregelt?

Im Grundgesetz in Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 heißt es: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“

Was ist fehlende Einsichtsfähigkeit?

Dieser Begriff kommt aus dem Strafrecht und aus dem Bürgerlichen Recht. Das Gesetz geht davon aus, dass es Menschen gibt, die nicht für ihr Tun verantwortlich sind, weil ihnen die dafür nötigen Fähigkeiten fehlen.

Im Strafgesetzbuch (StGB) regelt § 20, dass ein Mensch unschuldig ist, wenn er „wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit“ das Unrecht seiner Tat nicht einsehen kann.

Man merkt dem Gesetz an, dass es schon alt ist. Es stammt vom 15. Mai 1871, also aus einer Zeit, in der es das Grundgesetz noch nicht gab. Die Formulierungen klingen diskriminierend, beleidigend und sind schwer oder gar nicht mit den Werten des Grundgesetzes in Einklang zu bringen. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ist für Minderjährige geregelt, dass sie nicht für Schäden verantwortlich sind, wenn sie „nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht“ haben. Das steht in § 828 BGB.

Wann jemand einsichtsfähig ist und wann nicht, steht nicht im Gesetz.

Weil kein Gesetz regelt, wer genug einsehen kann, um Verantwortung tragen zu können, fragen die Gerichte dazu bei Sachverständigen nach. Juristinnen und Juristen sind in dem Bereich Laien.

Das bedeutet, dass Richterinnen und Richter zwar theoretisch darüber entscheiden wer verantwortlich ist und wer nicht. Praktisch aber entscheiden oft ärztliche, psychologische und sozialpädagogische Gutachterinnen und Gutachter. Denn Richterinnen und Richter glauben manchmal einfach, was diese ihnen sagen.

Es ist für mich als Rechtsanwältin ohne ein Gegengutachten schwer, überzeugend dagegen zu argumentieren, wenn so ein Gutachten unlogisch ist oder von falschen Voraussetzungen ausgeht. Sachverständigen wird oft eher zugetraut, das einschätzen zu können.

Das Gericht hat zu entscheiden.

Der Richtervorbehalt dient als Schutz für die betroffenen Menschen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren soll über ihre Freiheit entschieden werden. Es geht um den Schutz der Menschen vor Willkür.

Außerdem geht es um das wichtige demokratische Prinzip, dass Macht immer Kontrolle braucht: Gegen die Entscheidung sind Rechtsmittel möglich. Die Beschwerde führt dazu, dass ein anderes Gericht darüber noch einmal entscheidet.

In der Praxis kann es dazu kommen, dass Richterinnen und Richter eine medizinische Einschätzung einfach übernehmen. Es ist aber richterliche Pflicht, selbst zu überprüfen, ob diese Einschätzung wirklich richtig ist. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte können sich dafür einsetzen, dass das auch geschieht.

Was rechtfertigt eine Freiheitsentziehung in der Psychiatrie?

Weil es hier nicht um Bestrafung gehen darf, gibt es enge Grenzen dafür, wann ein Mensch in der Psychiatrie eingesperrt oder sogar gefesselt werden darf.

Vergleichsweise unproblematisch bleibt die Entscheidung, wenn es darum geht, andere Menschen zu schützen. Hier muss geprüft werden, ob die Freiheitsentziehung zu diesem Zweck verhältnismäßig war, das heißt sie muss notwendig, geeignet und geboten sein. Ein milderes, für die betroffene Person weniger belastendes Mittel darf es nicht geben. Auch darf der Richter oder die Richterin nicht die Fesselung anordnen, wenn es nur um eine Kleinigkeit geht. Das Mittel darf zu seinem Zweck nicht völlig übertrieben sein.

Richtig schwierig wird es, wenn es darum geht, dass jemand nur sich selbst gefährden würde. Unser Grundgesetz gewährt auch ein Recht darauf, eine Behandlung abzulehnen und lieber krank zu bleiben. Man darf sich auch frei dafür entscheiden, sich zu schädigen oder sich nicht helfen zu lassen.

Knackpunkt ist hier, dass ein Mensch manchmal nicht mehr in der Lage ist, das noch frei zu entscheiden:

Wer beispielsweise im schizophrenen Schub seinen eigenen Arm abhacken will, weil er glaubt nur so der Gewalt seiner Dämonen zu entkommen, entscheidet sich nicht frei dazu, künftig ohne den Arm weiter zu leben.

Patientenverfügungen können helfen

Es ist sinnvoll, den eigenen Willen in einer Patientenverfügung festzuhalten. Wer beispielsweise zu schweren schizophrenen Schüben neigt, kann außerhalb der Schübe festlegen, was der wirkliche Wille ist. Hier kann dann auch die Frage beantwortet werden: Wann möchte ich lieber mit Gurten am Bett festgebunden werden, um mich vor mir selbst zu schützen und wann möchte ich das nicht und nehme gewisse Selbstschädigungen lieber hin?